Patrick Chamoiseau zur »Welt nach Covid«
Eine Wortmeldung aus der unruhigen Karibik: Seit einigen Wochen kommt es in den Überseedepartements Frankreichs, zuletzt vor allem in Guadeloupe und Martinique, zu nächtlichen Ausschreitungen. Die Demonstrationen werden vor allem von jungen Leuten getragen und die Wut entzündet sich an verschiedenen Problemen, auslösend war die Einführung eines Covid-Impfzertifikats für pflegende und medizinische Berufe, hinzu kommen seit langem bestehende strukturelle und systemische Konflikte, wie etwa die immense Arbeitslosigkeit der Jugend (50 %) oder eine nicht abreißende Serie von Umweltkatastrophen, unter denen die Bevölkerung schwer leidet und die vom Mutterland Frankreich nicht oder nur nachlässig behandelt werden. Immer lauter wird der Ruf nach der Unabhängigkeit von Frankreich, aber wenn ein französischer Politiker darüber diskutieren will, sind die Meinungen doch sehr geteilt und es ist von »lâchisme« – Loswerdenwollen – die Rede (LM 30.11.). Hierzu einige Äußerungen von dem wichtigsten zeitgenössischen Autor auf Martinique, Patrick Chamoiseau. Sie sind einem Interview mit der Zeitschrift Créola entnommen.
»Wie Albert Camus und Aimé Césaire zu ihrer Zeit ist Patrick Chamoiseau zusammen mit Edouard Glissant eine Stimme von heute, die uns den Zustand und die Veränderungen auf der Welt besser verstehen lässt.
Wie sollte ›die Welt danach‹ aussehen? Sie sagten einmal, diese Welt sei schon gedacht worden, aber wir wüssten nicht, wie sie zu verwirklichen sei?
Patrick Chamoiseau: Wir können die Welt nur ausgehend von unserem ›Ort‹ betrachten. Mein ›Ort‹ ist Martinique. Daraus folgt, dass die ›Welt danach‹ sowohl ein anderes Martinique wie auch eine andere Welt sein muss. Das ›Martinique danach‹ kann nur ein Land ohne seine weiterbestehenden kolonialen Verhältnisse sein. Das Auffälligste an ihnen sind all die Abhängigkeiten von der ›Metropole‹, wie wir sie mit einiger Berechtigung nennen. Diese Bezeichnung ist der Beweis, dass wir nach wie vor individuell und kollektiv in einem Zustand der Unverantwortlichkeit gehalten werden. Ein Wahlprogramm auf Martinique verdient deshalb nur die Bezeichnung ›Politik‹, wenn es sich eingehend mit dieser Frage befasst. Das ›Martinique danach‹ muss in der Lage sein, in den unterschiedlichsten Bereichen Initiativen ergreifen zu können und eigenständig (und nicht als ein ›überseeisches Anhängsel‹) als ein Partner Frankreichs, Europas, der Karibik und Amerikas aufzutreten, wo die tatsächlich bestehende Interdependenz umgesetzt wird und alle beteiligten Partnern prinzipiell eine optimale Souveränität besitzen. Dazu ist anzumerken, dass das heutige Martinique sich weder auf der Welt befindet noch in ihrer Gegenwart, sondern lediglich im krankmachenden Schatten Frankreichs, gewissermaßen an seinem Tropf. In der ›Welt danach‹ wird Martinique wirklich auf der Bühne der Welt präsent und sich wie alle anderen Länder mit den fünf großen Herausforderungen unserer Zeit befassen müssen: dem Klimawandel, der Erhaltung der Umwelt, dem Problem der Verstädterung, der Digitalisierung, der Künstlichen Intelligenz und schließlich und endlich unserer Zukunft im Kosmos. Damit die heutige Welt diese Herausforderungen bewältigen kann, müssen wir uns aus der totalitären Ideologie befreien, welche den Planeten als ausbeutbare Ressource für die Bereicherung einer sehr kleinen Zahl von Menschen ansieht. Eine ›Welt danach‹ muss zwingend post-kapitalistisch sein und eine neue Freiheit verwirklichen. Ich glaube also, dass Martinique nur gegen die weiterbestehenden kolonialen Verhältnisse kämpfen kann, indem es im gleichen Schwung auch sämtliche Herausforderungen der ›Welt danach‹ anpackt. All das haben Glissant, ich selbst wie auch viele andere Denker weltweit gesagt und das schon seit Jahrzehnten. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir wissen noch nicht, wie es verwirklicht werden kann. Darin zeigt sich, dass unsere weiterbestehenden kolonialen Verhältnisse genau wie die kapitalistische Herrschaft über den Planeten unser Imaginäres, unsere Vorstellungswelt, ebenfalls beherrschen. […]
Was können wir, damit meine ich insbesondere uns in den Überseegebieten, von der Politik erwarten angesichts dieses kapitalistischen Projekts und seiner Wirtschaftsordnung?
P. C.: Der Kolonialismus hat sich zu einem neoliberalen Kapitalismus weiterentwickelt, der heute die Völker nicht mehr physisch beherrschen muss. Es genügt, wenn er die Köpfe, die Wünsche, die Phantasie und das Imaginäre der Menschen beherrscht. Alle auf Martinique wie auch auf der Welt glauben, der Zweck aller Politik sei die Ökonomie, dabei ist es gerade umgekehrt, die Ökonomie müsste ein nachrangiges Hilfsmittel für das Wohlergehen und die Selbstverwirklichung der Menschen sein. Alle auf Martinique glauben, die wichtigste Entscheidung auf der Welt sei die, ob sie sich in einem großen Frankreich auflösen oder, im Gegenteil, ganz mit Frankreich brechen sollen wie zur Zeit der Unabhängigkeitsbewegung in den 1950er Jahren. Im Gegensatz zu dieser Entscheidung ist unser wirklich wichtiges Projekt, wie wir unsere Präsenz in der Karibik und auf der Welt gestalten wollen. Aus diesem Projekt wird ein Status für Martinique hervorgehen, der unsere Bindungen und Allianzen mit Frankreich, Europa, der Karibik und Amerika neu regeln wird. Alle Franzosen glauben, die Republik müsse ›einig und unteilbar‹ sein und könne nur ein Volk beheimaten, dabei hat der Schock der Kolonisierungen einen großen relationalen Strom auf der Welt ausgelöst, so dass die Völker sich vermischt haben und neue anthropologische Realitäten aufgetreten sind, angefangen bei den Ländern, die man herablassend als ›Überseegebiete‹ bezeichnet. Es ist also notwendig, dass diese alte französische Verfassung aus der Nachkriegszeit ihre monolithische, hierarchisierende Vision aufgibt, es ist klar, in der ›Welt danach‹ werden nur jene Länder am besten gedeihen, wo die Vielfalt der Menschheit willkommen ist und die eigene innere Vielfalt hochgehalten wird.
Die Bevölkerung Martiniques kann Teil des republikanischen Pakts bleiben und Partner der französischen Bevölkerung werden, genau wie der Bevölkerungen Europas, der Karibik und Amerikas. Die französische Verfassung muss geändert werden, das wäre der Eröffnungsakt für eine große Wende im politischen Denken in Frankreich. […]«
Übersetzung: Beate Thill